Predigt über Hohelied 8,6-7
Pastor Christian Hild (ev.-luth.)
15. Sonntag nach Trinitatis
Gnade sei mit Euch und Frieden von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.
Liebe Schwestern und Brüder,
I
was hat in unserer Welt eigentlich Bestand? Gibt es noch irgendetwas, das von Dauer ist? Jeden Tag neue Nachrichten, neue Katastrophen, eine neu Sau, die durchs Dorf getrieben wird. Gestern Lothar Matthäus' Ex-Frau Liliana, heute ein wahnsinniger Pastor aus Florida, der heilige Schriften verbrennen will – und was kommt morgen? Schon 1968 hat der New Yorker Künstler Andy Warhol gesagt:
"In Zukunft wird jeder 15 Minuten berühmt sein."
Und er hat wohl Recht. Fernseh-Shows wie etwa der "Restaurant Tester Rach" oder Talentshows wie "DsdS", "Schlag den Raab" oder "Big Brother" produzieren ständig neue Stars oder Sternchen. Sie werden in den Status der Prominenz erhoben, nur um kurze Zeit später wieder zu verschwinden. Heute abgefilmt und abgefeiert – morgen vergessen. Berühmt für die Dauer einer Fernsehsendung oder einen Beitrag zwischen 45 Sekunden und einer Minute 30, eingebettet zwischen einem Spendenaufruf für die Flut in Pakistan und den letzten Nachrichten zu Jörg Kachelmann und Thilo Sarrazin. Und was kommt morgen?
Im Erfolg, den diese Sendungen aber offenbar haben – denn sonst würden sie ja nicht gesehen und ausgestrahlt werden – offenbart sich eine Sehnsucht. Die Sehnsucht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach etwas Wertschätzung, Popularität und Zuwendung. Menschen wollen Wertschätzung, wollen Zuwendung, wollen Bedeutung, ein offenes Ohr – das erwarten, erhoffen sie von dieser medialen Präsenz. Doch grade diese mediale Präsenz, diese Berühmtheit für 15 Minuten ist doch nur ein Zeichen für Verfall und Vergänglichkeit. Heute abgefilmt und abgefeiert – morgen vergessen. Nach 15 Minuten Berühmtheit.
II
Gibt es eigentlich etwas, das sich nie ändert? Beständigkeit und Zuverlässigkeit – in einer Zeit, in der Menschen die Nacht zum Tag machen und selbst das Klima der Erde verändern? Unser Bibeltext für heute Abend nennt zwei Dinge. Zuerst die Liebe. Liebe verändert den Menschen, aber sie ändert sich nicht selbst. Und dann den Tod. Fast eine banale Einsicht. Geliebt und gestorben wurde schon immer. Klar. Aber hören wir den Text der heutigen Lesung aus dem 8. Kapitel des Hohelieds noch einmal.
8,6 Mache mich zum Siegel auf deinem Herzen,
zum Siegel an deinem Arm,
denn stark wie der Tod ist die Liebe,
so unerbittlich wie die Unterwelt ist meine Leidenschaft.
Ihre Pfeile sind Brandpfeile,
flammende Blitze.
7 Wassermassen können die Liebe nicht löschen
und Fluten können sie nicht überschwemmen.
Wenn jemand seine ganze Habe für die Liebe gäbe,
man würde ihn bloß verachten.
Dieser Text ist rund 2.500 Jahre alt. Schon 2.500 Jahre begleitet er Liebende und verleiht ihrer Leidenschaft Sprache. Damals, gestern und heute ist er ein Ausdruck menschlicher Gefühle. Er hat Jahrtausende überdauert und doch ist er kleiner als das, was er bezeichnet. Der Text ist kleiner als die Liebe. Kleiner auch als der Tod.
In dem Liebeslied bittet die Geliebte den Geliebten, sie zum Siegel auf seiner Brust oder seinem Handgelenk zu machen. (Vgl. Othmar Keel, Das Hohelied, S. 246) Daraus spricht die Sehnsucht, jederzeit wie "ein Amulett oder ein Schutzzeichen an der Brust oder dem Arm des Geliebten" zu ruhen." (Ebd.) Die Liebe selbst soll das Siegelzeichen des Amuletts sein. Sie allein gewährt Schutz vor der ebenbürtigen Kraft des Todes. Die Liebe der Geliebten kann dem Tod ebenbürtig gegenübertreten.
Denn die Liebesleidenschaft wird beschrieben wie elementare Gewalten: Blitze und Brandpfeile. Stärker noch als Fluten und Wassermassen. Eindrucksvoll haben Sie, lieber Herr Schulz, das in dem Bild auf der Rückseite der Broschüre aufgemalt. Eine Glut – rot, gelb, voller Leidenschaft und sogar grün, grün wie die Hoffnung – die den Wassermassen widersteht.
Jedenfalls ist Liebe nichts, was sich irgendwie – und schon gar nicht durch Hab und Gut und Geld oder Popularität – steuern, "handhaben" und beeinflussen ließe.
III
Große Worte also für etwas noch Größeres – für die Liebe zwischen zwei Menschen. So groß ist die Liebe, dass sie zu allen Zeiten Menschen dazu gebracht hat, dazu hingerissen hat, ihrer Leidenschaft, ihrer Berührtheit von der Liebe durch Sprache, Klang und Bild Ausdruck zu verleihen. Das Hohelied selbst spielt dabei ein große Rolle, wurde es doch über Jahrtausende immer wieder neu aufgeschrieben und in neuen Sprachen weiter überliefert – so wie beispielsweise im sogenannten "Codex Sinaiticus" – einer griechischen Handschrift aus dem 4. Jahrhundert nach Christus, die auf dem Liedblatt als Bild abgedruckt ist.
Auch 1.400 Jahre später bezieht sich der schwäbsiche Dichter und Pfarrer Eduard Mörike auf das Hohelied Salomos. Er schreibt 1828 in seinem Gedicht "Nimmersatte Liebe":
„So ist die Lieb‘! und war auch so,
Wie lang‘ es Liebe gibt
Und anders war Herr Salomo,
Der Weise, nicht verliebt.“
Ob damals also oder heute – alle Menschen, ob Salomo, Mörike oder wir: anders ist niemand verliebt.
IV
Heute wie damals verleihen Menschen ihrer Leidenschaft Ausdruck – suchen Menschen Formen, Klänge, Worte für die Liebe und finden darin kein Ende, ja sie können darin gar kein Ende finden, denn immer wird die Liebe größer sein als alle diese Kunst-Stücke, diese Formen, Klänge, Worte. Kunst-Stücke bleiben es deswegen, weil sie verglichen mit der großen Liebe immer nur Stück-Werk bleiben können, ein Abglanz eben. Dennoch: Liebe beeinflusst uns, verändert uns und wenn wir lieben, spüren wir diesen Drang, genau das auch mitzuteilen – in Wort, Klang und Bild: durch Sprache also. Diesen Vorgang beschreibt der französische Philosoph Roland Barthes so:
"Die Sprache ist eine Haut: ich reibe meine Sprache an einer anderen. So als hätte ich Worte anstelle von Fingern oder Finger an den Enden meiner Worte. Meine Sprache zittert vor Begierde. Die Unruhe erwächst aus einem doppelten Kontakt: einerseits … jenes 'ich begehre dich' … andererseits wickle ich den Anderen in meine Worte ein, streichle, berühre ihn sanft damit … verausgabe mich dabei, dem Kommentar Dauer zu verleihen, den ich der Beziehung angedeihen lasse."
Das Kunstwerk – Barthes nennt es den "Kommentar" – soll also Dauer bekommen, Beständigkeit, genau wie die Beziehung, die Liebe. Und also wickle ich den Geliebten, die Geliebte in meine Worte, in meine Kunst ein. Ich verausgabe mich dabei. Meine Kunst, meine Worte sollen schließlich meinem Gefühl entsprechen. Meine Kunst soll so groß sein wie die Liebe zum dem geliebten Gegenüber. Meine Sprache ist dabei empfindlich wie meine eigene Haut. Ja, meine Sprache wird zu einer Art Haut.
Durch dieses empfindsame, zärtliche Streben kann und soll das Reden von der Liebe zwischen Mann und Frau kein Ende nehmen. Und es nimmt auch kein Ende. Das beweist unter anderem unser kleines Projekt, das Buch, das Lied und die Bilder von Herrn Schulz. Vor 2.500 Jahren und auch heute reden Menschen von "ihrer" Liebe – da ist es ganz gleich, ob sie selbst dichten, komponieren, malen oder aber sich die Gedanken, Klänge oder Bilder anderer zueigen machen und die ihnen zuteilgewordene Liebe da hineinlesen, -hören und -denken und dadurch die Liebe preisen.
V
Wie aber genau kommt es überhaupt zur Liebe? Ist denn die Welt, in der wir leben, zum Lieben wirklich angetan? Diese kalte, tödliche und flüchtige Welt, in der nichts Bestand hat?
Ein Bild möchte ich auf der Suche nach einer Antwort etwas genauer mit Ihnen und Euch anschauen. Es ist auf der Titelseite der Broschüre abgedruckt. Werner Schulz hat es "… denn liebe ist stark wie der tod …" genannt. In einer handähnlichen, aufstrebenden Form in gelbe und rote Farbtöne eingebettet, recken sich zwei Gestalten einem weißen Licht entgegen. Von diesem Licht werden sie beleuchtet. Das Licht liegt auf dem stilisierten Gesicht der beiden Gestalten. Scharf begrenzt wird dieser gelb, orange, rote Farbraum rechts und links durch blaugraue Flächen. Am linken oberen Eck tritt aus dem blau grauen Feld ein hohlwangiges, totenkopfähnliches Gesicht hervor.
Werner Schulz, hat mir das im Gespräch so erklärt, dass das Licht für das Göttliche stehen soll. Gott erhellt unser Leben, erhebt uns aus dem tödlichen Grau in Grau des Alltags – überall da, wo mindestens zwei sich ihre Leidenschaft vermitteln, sich lieben, beschenken, besingen – Gott sieht uns an, sieht uns liebevoll an. Sein Blick lässt Menschen als Liebende aufstehen, aufrecht stehen. Es ist dieser Blick, über den Max Frisch, wie auf S. 16 und 17 der Broschüre nachzulesen ist, philosophiert. Max Frisch sagt dazu:
"… In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die andern in uns hineinsehen, … Auch wir sind die Verfasser der andern; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen …"
Gott sieht uns liebevoll an. Und können wir Max Frisch Glauben schenken, dann sind wir Liebende, weil Gott uns liebevoll ansieht. Oder besser: weil uns Gott liebevoll ansieht, werden wir Liebende – herausgerissen aus den Fängen des Todes. Wir sind das Wesen, das andere in uns hineinsehen. Gott sieht uns liebevoll an und wir strecken uns Gott, der Liebe, dem Leben, dem Licht entgegen. Weil Gott will, dass wir leben und lieben, hat der Mensch gewordene Gott dem Tod die Macht genommen, weil er auferstanden ist. So hat er der Liebe Dauer verliehen über die Flüchtigkeit hinaus. Dem Tod, dem kalten, grauen lieblosen Blick der Menschen untereinander, ist die Macht genommen – die Liebe bleibt. Die Liebe bleibt, weil Gott uns liebevoll ansieht, uns so zu Liebenden und damit Liebhaberinnen und Liebhabern macht. Die Liebe macht uns also zu Menschen, die Liebe auch weitergeben können. Und so bleibt die Liebe. Gestern, heute und auch morgen. So lange es Menschen gibt.
Amen.